A letter from September 21st, 2020

Time Travelling — almost 5 years

Peaceful right?

Hallo du, du hast mich wahrscheinlich schon vergessen. Ich bin du, vor 5 Jahren. Erinnerst du dich noch daran, wie du diesen Brief geschrieben hast? Heute ist der 21.09.2020, vier Monate nach dem Tod von Papa. Heute war ein ziemlich beschissener Tag, ich hoffe, deiner war besser. Es ist nichts besonderes passiert, ich war nur in der Schule. Ich habe immer noch ein komisches Verhältnis zur Schule. Ich fühle mich immer noch nicht, als wäre ich an dem Ort angekommen, an dem ich sein soll. Aber ich bin den ganzen schon näher gekommen, glaube ich. Ich fühle mich gut. Wirklich. Und gleichzeitig auch nicht. Wie geht es dir? Ich bin, seit Papa gegangen ist, verändert. Ich weiß so oft nicht, wie ich mich fühlen soll. Neben der Tatsache, dass ich ihn unglaublich vermisse, ist mir noch etwas aufgefallen. Etwas, das ich niemals vor irgendjemand sonst zugeben könnte: ich fühle mich irgendwie leichter. Als wäre da niemand mehr, den ich enttäuschen kann. Zu leben ist leichter geworden. Und gleichzeitig schwerer. Wie kann ich so selbstsüchtig sein, dass es mir jetzt schon wieder die meiste Zeit gut geht? Was hat mein Dasein hier überhaupt für einen Wert, wenn ich selbst den Verlust von so einer engen Verbindung wie die mit meinem Papa so wegstecken kann? Ich glaube, ich kann die Trauer einfach nur nicht zulassen, weil ich Angst habe, dass sie mich wieder so einnimmt wie vor ein paar Jahren. Ich hab mir nie wirklich darüber Gedanken machen müssen, was es bedeutet, stark zu sein. Ich habe momentan niemanden, mit dem ich auf diese Weise reden kann, wie jetzt mit dir. Ich hoffe für dich, dass es jemandem in deinem Leben gibt, der inzwischen auch deine kaputte, deine komplizierte und deine tiefgründige Seite liebt. Jemanden, den du nicht nur willst, sondern den du brauchst. Heute war kein besonders guter Tag, denn ich fühle mich hier in meiner Erfurter Wohnung ziemlich allein, und ich frage mich sehr oft, warum. Warum habe ich keinen Freund, stimmt irgendetwas mit mir nicht? Gleichzeitig weiß ich aber auch, dass genau diese Denkweise das Problem ist. Außerdem habe ich momentan das Gefühl, dass nichts, was ich mache, gut genug ist. Meine alten Überzeugungen (die ich aber wahrscheinlich auch nur wegen meiner Erziehung hatte), haben sich einfach so schnell aufgelöst, weißt du. Alles ist so fragil und nichts bleibt. Ich lebe jetzt ein komplett anderes Leben, als vor ein paar Jahren, als wir noch alle im alten Haus gewohnt haben. Manchmal denke ich, dass ich überhaupt keine Werte und Normen aus dieser Zeit übernommen habe, und manchmal macht es mich kaputt. Ich höre ganz oft noch Papas Stimme in meinem Kopf, wenn ich Sachen mache oder Entscheidungen treffe, die nicht seinem Weltbild entsprochen hätten. Ich muss mich wirklich immer wieder in den Glauben zurückrufen, dass das hier mein Leben ist und ich meinen eigenen Weg finden soll und muss. Ich fühle mich meistens nicht mehr wie ich selbst. Aber ich bin wieder näher dran. Manchmal fühle ich für einen ganz kurzen Moment dieses Gefühl durchblitzen, dass es einen Teil in mir gibt, der sich nie verändert hat. Dass ich immer noch die alte bin. Aber es ist sehr selten. Wenn ich abends allein durch Arnstadt laufe zum Beispiel, oder wenn ich mal einen Moment habe, in dem ich auf dem Balkon sitze, und mit meinen Gedanken ohne jede Ablenkung alleine bin. Oder alte Musik höre. Ich vermisse mich, denn ich mag mich eigentlich sehr. Wenn du das liest, bist du schon 26. Unglaublich. Natürlich wirst du in einer ganz anderen Situation sein, als ich jetzt. Ich habe ja gesehen, was 4 Monate mit einem anstellen können, was können dann 5 Jahre mit einem anstellen.. Ich habe heute übrigens Sushi gegessen. Wenn du noch nicht gegessen hast, kannst du dir ja welches bestellen. Ich hoffe wirklich aus tiefstem Herzen, dass es dir gut geht. Wenn es Velvet noch gibt, knuddel’ sie von mir. Stress dich nicht so viel, und lass es dir gut gehen. Und besinne dich ab und zu darauf, was wirklich wichtig ist. Ich liebe dich, und bin stolz auf dich. Papa wäre es auch.

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